Biblische Themen als Deutungsfolie nutzen seit den 1960er Jahren Wolfgang Mattheuer, Fritz Cremer, Willi Sitte, Harald Metzkes, Werner Tübke und andere. Eine der prägnantesten Metaphern erfand 1965 Wolfgang Mattheuer mit dem »Kain«, den Erfurt zeigt, zudem die Kalksteinplastik »Brudermord« (1971) von Hartmut Bonk. Damals empfand man das als neuartigen allegorisch-symbolischen Ausdruck, der vom Vorbildschema abwich und sich aus den Niederungen des abbildhaften »sozialistischen Realismus« zu prägnanter, sinnschichtenreicher Bildhaftigkeit erhob. Wer das jetzt entdeckt und meint, daß dies »bisher kaum näher untersucht wurde«, kennt nicht die Forschungen Irma Emmrichs (1979), Helga Möbius' (1983), das schöne Buch »Dialog mit der Bibel« von Jürgen Rennert (1984) oder die Hochschulforschung beispielsweise in Erfurt. Die christlichen Themen, ob vom Weltuntergang zum Brudermord, von der Passion bis hin zu erotischen Bildern, nahmen alle stilistischen Richtungen auf, ob die lapidare von Rene Graetz und Gerhard Kurt Müller, die konstruktive von Philip Oeser und Hermann Naumann, die expressive von Joachim John, Michael Morgner, Werner Schubert-Deister oder Joachim Völkner, die punkige von Hartwig Ebersbach, die veristische von Volker Stelzmann und Norbert Wagenbrett, die sinnliche von Christoph Wetzel und Winfried Wölk, die surreale von Heinz Plank, die manieristische von Heinz Zander und Michael Triegel oder die naive von Albert Ebert.
Die Kunst in der DDR, jetzt als weniger konservativ und indoktriniert erkannt, entwickelte enorm solid und plural einen künstlerischen Spielraum. Das sollte Toleranz herausfordern. Selbst »staatsnahe« Kunst gab es zweifach. In Weimar zu sehen, aber nicht in Erfurt, die affirmative Kunst, die mit der Didaktik des unmittelbaren Realismus sich den politischen Redensarten eingängig angepaßt hat. Einbezogen in Weimar und Erfurt eben solche Kunst, die dem Ideal einer sozial gerechten und friedlichen Gesellschaft mit hoher künstlerischer Qualität verpflichtet ist und vom Staat manchmal weniger akzeptiert war.
Kuriose journalistische Versuche gegen die DDR sind Bilderdeutungen. So sieht jemand im Bild von Alexandra Müller-Jontschewa, den »Turm« als DDR-Staat und bei ihm »ein verhärmtes Volk hausen«. Tatsächlich sind sichtbar, nach Motiven von Albrecht Dürer, der Heilige Hieronymus als Übersetzer, darüber die grüblerische »Melancholie« und als drittes Motiv Raffaels streitende philosophische Schulen von Athen. Je höher im Turm von Babel der Wissensweg gelangt, je differenzierter, widersprüchlicher ist die menschliche Einsicht zur Wahrheit. Eine nicht auf die DDR bezogene essayistische Bildform, sondern auf die Welterkenntnis.
Das Hauptwerk in Erfurt, Uwe Pfeifers Triptychon »Tischgespräch mit Luther« (1984), durch einen Stuhl erweitert, der den Betrachter in das Gespräch zwischen Luther und dem MP-bestückten lateinamerikanischen Befreiungstheologen einbeziehen soll, drängt zur Frage über den Weg der vita activa zur gerechten Gesellschaft in der Welt. Damals und heute.