Bigotte Sonntagsredner | Ein Wutausbruch
"Kultur, bemerkte Friedrich Dürrenmatt, sei die Petersilie auf dem Karpfen. Natürlich meinte der klügste Kopf der Schweiz das als ironische Sottise auf das Kulturverständnis seiner Zeitgenossen. Er wusste, dass Kultur etwas anderes ist als Garnitur auf Futter. Kultur ist die Erbmasse der Zivilgesellschaft, sie ist ihre DNA. Ohne sie kann die Barbarei frei wuchern. Dass Kultur derzeit Verschluss-Sache ist, scheint in der politischen Klasse niemanden zu beunruhigen. Aus den Hallen der Entscheider hören wir ebenso ignorante wie bornierte Phrasen, wenn es darum geht, sich als Freund und Wahrer der Kultur zu gerieren.
Kommen Herr Altmaier oder Herr Söder, pars pro toto, am Ausklang ihrer jeweiligen Corona-Suada noch auf den Appendix Kultur zu sprechen, stellt sich reflexartig der gönnerhafte Tonfall ein, mit dem man ein krankes Kind tröstet, ihm das Köpfchen streichelt und verspricht, dass alles wieder gut wird. Man habe die Kultur nicht vergessen, man stehe an ihrer Seite, wirklich, sie sei wichtig, bereichernd, aber ja, wir lassen euch nicht allein. Wie jetzt? Ihr lasst uns, die wir in, mit und für Kultur arbeiten, nicht allein? Das Problem ist, dass euch offensichtlich jegliche Kultur verlassen hat, sonst würdet ihr nicht ohne schamrot im Boden zu versinken das Recht auf Haarschnitt mit der Würde des Menschen begründen, während Museen, Kinos, Theater, Konzertsäle, Bibliotheken, Buchhandlungen, in denen des Menschen Würde gelebt, befragt, erneuert, wachgehalten wird, blockiert sind.
[...]
Weder über Kultur als Voraussetzung für ziviles Handeln noch über ihre Bedeutung für menschenwürdige Politik ist in den endlosen Krisenbulletins gesprochen worden. Stattdessen werden die Kulturtätigen mit dem Hülsenarsenal bigotter Sonntagsreden und gnädigen Gratifikationen ruhiggestellt.
Aber wir sind nicht ruhig. Es ist nicht unsere Bestimmung, zuzusehen, wie Politik die Lebensfunktion von Kultur nicht begreift oder fortgesetzt ignoriert. Man sehnt sich in die weiß Gott nicht schönen fünfziger Jahre, wo Politiker wie Theodor Heuss oder Carlo Schmid den Werl der Kultur nicht nur kannten, sondern sie auch selbst repräsentierten.
[...] Macht das Tor zur Kultur auf. In euren Köpfen! "
(Gert Heidenreich, Schriftsteller, in FAZ vom 27.02.2021, aus rechtlichen Gründen leider gekürzt)