Wie so vieles auf dieser Seite des Jahrtausends wurde die Prophetie im Titel des Buchs des Monats Juli vielleicht nicht als Überraschung wahrgenommen, nein, vielmehr malmten die Ereignisse so in und durch die Epoche, dass Lutz Steinbrücks Lyrikband, obschon noch vor erstem Lockdown und dem unsäglichen menschengemachten Knirschen und Knacken im Gebälk der Welt im Klak-Verlag Berlin erschienen, nun, im rauch-, propaganda-, zorn- und hysteriegeschwängerten Jahr 2023 dem empfindsamen Konsumierer als Weissagung der sprichwörtlichen „Zustände“ erscheinen mag. Ja, und man sich wundert, was Gedichte vielleicht doch in der Tiefe vermögen: unserem noch nicht klar ausdrückbaren Empfinden eine Sprache und ihr Bilder, Gelenke und eben Klarheit geben.
Aber so ist es, so scheint es doch tatsächlich zu sein. „Haltlose Zustände – mit diesem Befund setzt Lutz Steinbrück die Lesenden der unmittelbaren Realität aus, ihrem Widersinn und scheinbar festgezurrten Gewissheiten. Gedichte und Text-Collagen, feinnervig formuliert, im Grundton diffusen Unbehagens – mit rasant wechselnden Perspektiven im Kontext deutscher Geschichte und Befindlichkeiten, universeller, urbaner und provinzieller Verhältnisse.“ So der Klappentexttrailer für den 2020 erschienenen, zehn lyrische Zyklen auf 132 Seiten fassenden Band, ausgestattet mit einigen Vignetten von Mario Hamborg, der auch für den überaus ansprechenden, zeitlosen wie das Leser-Auge auch behutsam wie sanft zwingend mitnehmenden Cover-Entwurf verantwortlich zeichnet.
Das Unbehagen, das Steinbrücks Dichtung seinerzeit noch als sie diffus wahrnehmend beschreibt, ist mittlerweile klar und deutlich geworden, es kanalisieren sich – machen sich die inneren und angesichts des anstehenden, ja, sich vollziehenden Epochenbruchs, an dem wir stehen, mehr noch die äußeren Zerreißproben offenbar. Und es ist das Verdienst dieser Texte, in den Vorgewittern dieser Ereig- und Schrecknisse bereits einen Ton dafür gefunden zu haben, der der Dichtung nun zur Verfügung steht. Steinbrück beschreibt das Aus-den-Fugen-Geraten, auch den Zweikampf, der unterschiedlicher Erfahrung und damit Sichtung zugrunde liegt, die in der jüngeren deutschen Geschichte triftig rezipierbar abgelegt ist und etwas Grundsätzliches über das Menschenwesen in sich zu tragen scheint, trotz 300 Jahren Aufklärung, und letztlich ... – aufs Globale umlegbar ist.
In seiner Wahlheimat Berlin hat der 1972 geborene Bremer Lutz Steinbrück, der mit den Haltlosen Zuständen seinen insgesamt dritten Lyrikband vorlegte und auch als Musiker reüssiert, mit großer Sicherheit das idealtypische Studien-Objekt für seine Sichtungen, Erkundungen, Feststellungen und Deutungen gefunden. Steinbrücks Verse und Fließtexte sind Großstadtlyrik par excellence, und das lange geteilte Berlin ein Symbol für Zerrissenheit, auch Hybris und die sich einschleichende Haltlosigkeit bei immerwährender Chance, dass sich doch noch alles zum Besseren wenden möge. Auch das Individuum ist dabei sichtbar, zuweilen als Mahner, zuweilen ameisengroß im Gewimmel, das sich aus Betonblöcken und Kleingärten zusammensetzt. Ja, und Verlorenheit spielt eine Rolle, die auch im Fortschreiten der Jahre sich begründet, im sezierenden, fragenden Auge des Dichters.
„Ich ist ein Säugetier“, so heißt es an einer essentiellen Stelle des Buches, in einem der hinteren, persönlichen Zyklen, der Intimes Archiv heißt. Trotz dieser Zuweisung und mithin Verdammtheit wachsen ihm am Ende des Textes „Flügel aus dem Kopf“. Somit besteht – wie ja auch jedes noch geschriebene und gesprochene Wort im Gedicht der Wunsch nach dem Beginn eines Gesprächs ist und bleiben wird – auch forthin Hoffnung. Die Dichtung von Lutz Steinbrück ist das eine wie das andere auf jeden Fall: Auf der Höhe der Zeit punktiert sein Insistieren, ausgehend von den am Buch-Beginn programmatischen Textblöcken über die urbanen Exegesen und den Texten ums Ich (auf der Suche nach einem Wir) und landet ganz am Ende bei Zuständen, die aus der Geschichte in die Gegenwart übersetzten, flankiert von der Gier, die Sesshaftigkeit und Patriarchat in sich tragen:
Am Beispiel von Walther Rathenaus Von kommenden Dingen, aus dem das Schlussgedicht zitiert, lugen der Krieg und die erschrockene Stille in den Band hinein: „die keimenden Schollen der Oder / ziehen in dichten Verbänden mit dem Strom / die Stille des Vorwurfs nach den tödlichen Schüssen / ein friedliches Weiß das den Horizont lichtet“. Davor, dazwischen und aus der Sicht dessen, was wir heute wissen, auch danach spannt sich das Leben auf, ins Kleine wie ins Große gespiegelt, um das es sich lohnt zu ringen und gegen die haltlosen Zustände anzugehen. Nun, einen brisanten und lakonischen, unsentimentalen und nachhakenden Dichter hat man Lutz Steinbrück genannt. Sein Buch steht auch für die Seismik lyrischer Erkundung – bei gleichzeitigem Bestehen auf Würde, Integrität ... in Zeiten wie diesen ist das elementar. (Lutz Steinbrück: Haltlose Zustände, Gedichte. Berlin: Klak-Verlag 2020, Klappenbroschur, 132 Seiten m. Abb., ISBN 978-3-948156-34-3, 15 Euro.)
(André Schinkel)