Das ist das Buch eines Liebenden. In reicher, überbordender Sprache, dass man sich zuweilen nur wundern kann, setzt der Dichter André Schinkel in seinem neuen Prosaband seine Liebe ins Licht. Sie gilt – wie aus dem Titel zu erahnen war – zuerst seiner Stadt. Aber müsste man nicht Städte sagen? Denn sein Liebesverhältnis schließt mehrere Bräute ein. Da ist zum einen die Stadt seiner Kindheit, in der er auf Spurensuche geht, darüber nachsinnt, „was die Zeit mit einem anstellt, wenn man angehalten ist, fortzuleben und sich zu erinnern.“ (So zu lesen im Text Albumblatt.)
Darin setzt er nicht nur seinem Großvater ein anrührendes Denkmal, sondern breitet ein Gewebe an Erinnerungen aus, aus dem sich so etwas wie Heimat formen mag, auch wenn der Begriff nicht auftaucht. Dann ist da noch seine Stadt Halle, durch die er streift, von Flussläufen erzählt, dem Milan folgt, in den Auen glaubhaft versichert, dass Gott die Vögel lieben muss und angesichts der kaum überstandenen Pandemie auch von „der stillsten Weihnacht, die die Welt jemals sah“, berichtet. Um die Liebe muss man auch ringen, klingt aus vielen Zeilen, jetzt und fortan.
Die Schönheit der Stadt, die ich verlasse ist eine Sammlung von 42 Texten, von denen nicht alle Erzählungen im eigentlichen Sinne sind. Vielmehr breitet Schinkel vor den Augen der Leserinnen und Leser Angebote aus, sich selbst neu zu finden, Anregungen zum Anders-Sehen. Der Bogen reicht dabei formal von Miniaturen über Traumsentenzen – unter anderem nach Bildern seines Freunds, des Leipziger Malers Frank Hauptvogel – über absurd anmutende Begegnungen mit einer Bibliothek im Bauch bis hin zu fein ziselierten Ausflugsberichten.
Schinkels Liebe gehört auch der Sprache. Gleich im ersten Text Perseus wirkt eine Sternschnuppe auf ihn „... als trennte sie ... die dünne Haut des Zeltes, aus dem Licht und Dunkel gemacht war, auf.“ Das gibt den Ton vor, den der Dichter anschlägt und variiert. Die erzählerische Meditation Von der Dichte des Worts nähert sich dem Sagbaren an. Und gleich danach ist von den „Einbäumen meiner Gedanken“ die Rede, „... die schönste, will ich glauben, Flotte der Welt“. Wann hat man zuletzt so poetisch von Literatur sprechen gehört?
Unter der Hand erweist sich Schinkel auch als großer Vogel-Kenner, im Sprechen wie im Stillsein jenen Sängern nahe. Sprache, Natur und Landschaft finden zueinander. Und es gibt den wunderbar leisen Humor des Autors sich selbst gegenüber, wie er beispielsweise in Reprise, oder: Nach einer Revolution kenntlich wird. Aber auch von der Einsamkeit ist zu lesen, der Traurigkeit ist der Text Umbo gewidmet, Ultramarin wird als neuer Gott vorgestellt, verlassene Plätze entfalten ihre Magie, Dantes Göttliche Komödie wird in einer ‚Traumreise‘ neu hinterfragt: Was gilt noch?
Wie ein weiterer roter Faden zieht sich schließlich das Bekenntnis zu der Frau, die der Autor liebt, durch diesen Band. Lina ist eine betörende Liebesgeschichte über den Namen des ungeborenen Kindes zweier Liebenden, so zart, so zukunftsoffen, wie es lange nicht zu lesen war. Auch in anderen Geschichten finden sich Szenen eingebettet, wie sehr Liebe stärken und schöpferisch machen kann.
„Wir stehn, das Licht teilt sich über dem Geräusch unseres Stehens ... Die Dinge berühren sich. Wir stehn.“ (aus Nietlebener Moment) Es sind solche Sätze, die verwundern, Mut machen und immer wieder dazu einladen, den Kopf aus dem Text zu heben und nachzusinnen darüber, was es anstellt, das Leben, mit uns – und was wir anstellen mit ihm. Dieses Buch (Mitteldeutscher Verlag 2022, 176 S., ISBN 978-3-96311-616-2, 16 Euro) eines vielfältig Liebenden ist ein großes Glück für uns.
(Holger Uske)